Leseprobe WELTHERZ

Leseprobe zu »Weltherz«

Prolog oder Vom Aufbruch

Noch vor meinem vierzigsten Geburtstag wollte ich entdecken, wer ich wirklich bin. Herausfinden, was ich mit meiner Lebenszeit anstellen möchte. Ich wollte keine Mensch-Maschine sein, die Geld generiert. Kein Panther hinter tausend Stäben. Kein Kästchen bewohnen. Ich wollte leben, mich lebendig fühlen. Ich wollte wissen, auf welche Weisen man leben kann. Ich wollte die Vielfalt der Welt erfahren und mit der Natur verbunden sein. Ich wollte Klarheit. Ich wollte meine Natur aufspüren, mein Wesen, meine Identität. Ich wollte dem leisen und lauten Singen meiner Seele lauschen. Die Stimmen der Welt hören. Von der Magie kosten – ehe es daran ging, mich einzurichten. Ich wollte einen Fuß in Landschaften setzen, die ich noch nicht kannte. Ich wollte ein freies, einfaches, ein reiches Leben. Ich entschied mich, auf Reisen zu gehen. Die Reise verwandelte mich.
Wenn es für mich so etwas wie eine Gebrauchsanweisung zur Freiheit gibt, dann hat sie der Schriftsteller Edgar Allan Poe als »vier Voraussetzungen des Glücks« vor Langem aufgeschrieben:

1.    Das Leben im Freien,
2.    Die Liebe zu einem Menschen,
3.    Die Loslösung von jedem Ehrgeiz,
4.    Die schöpferische Tätigkeit.

Ich kündigte 2011 meinen Job bei einem Internet-Start-up. Packte meinen Rucksack und zog sechs Wochen später los Richtung Himalaja, die Berggiganten Nepals anstaunen. Seitdem reise ich, Daumen in den Wind, folge meinem Instinkt, jeder wilden Fantasie, und setze auf Vertrauen, das wir als Fremde immer brauchen, als verbindende Kraft für die schlummernden Beziehungen. Zu uns selbst, der Welt und den Menschen.
Ich begann, ein Tagebuch zu schreiben. Denn beim Beatnik Jack Kerouac las ich vom Wert eines solchen Buches: Alles, was man in ein Tagebuch schreiben würde, gleich wie banal, sei später immer von außergewöhnlichem, beinahe qualvollem Interesse, notierte er in Anlehnung an die Worte des Schriftstellers Julien Green. Ich schrieb meine Gedanken auf und die Geschichten, die mir unterwegs begegneten, die vom Leben erzählen sollten. Ich hielt fest, was erfahrbar war. Dies sind die Aufzeichnungen meiner Reise.

Teil 1
ISRAEL
Bequemlichkeitstrance und Freiheitsschwüre

Eins
Seelenreise
Ich trage noch meinen Winterpulli. Nennt mich verrückt. Alles beginnt heute. Alles. Sitze da, am Strand – auf meinem Rucksack und neben meinem vorläufigen Gefühl: alles ziemlich verrückt und wackelig. Weil es nicht mehr so sein würde, wie es einmal war.
Nach vier Stunden Passkontrollenduell und Generalverdachtswahnsinn am Ben Guiron Airport atme ich Tel Aviv ein. An einer menschenleeren Kreuzung am Ende der Allenby Road bin ich müde aus dem Taxi gestolpert. Mehr noch als das überfließende Licht, die unverwandt rauschende See und die Morgenstille haut mich die leichte Luft um, die warm und sanft – so lautlos wie ein Landstreicher – an meinem Gesicht entlangstreift. Eine ganze Weile schaue ich der Aufführung der Möwen über dem offenen Meer zu. Ich werde seelenruhig. Ich höre mich atmen.
Wohin hätte ich besser aufbrechen können als an den Ort, wo diejenigen hinströmen, die sonst nicht wissen, wo sie bleiben sollen. Einen Ort, an dem es nicht weiter auffällt, wenn man laut fragt: Warum bin ich hier? Was ist mir heilig? Und gerade erst ein paar Schritte in der Welt unterwegs, erhalte ich die Quittung all der wunderbaren Möglichkeiten und laufe Gefahr, gleich zu Beginn dieser Reise an Fieber zu erkranken, am Stendhal-Syndrom zu verzweifeln: Tel Aviv. Kann kaum begreifen, was da wirkt. Kann ein Ort so leicht, so schön sein? So aufsässig, mutig, trotzig? Kann Freiheit ein Verführer sein, reich und süchtig machen? Kann man so federleicht das Leben lieben?
Manchmal erliege ich einer Illusion, die mich antreibt. Der Illusion, die besonders intensiven Augenblicke des Lebens einfrieren zu können. Solange ich daran denke, kann mir nichts passieren. Will durchs Leben schlendern, will das Leben verehren, weil es mir gelingt, dass Weltherz und Sinne voll auf Empfang stehen. Jeden schalen Alltag will ich mir vorwerfen, keineswegs den Alltag hinrichten.
Am Strand von Tel Aviv schmecke ich das würzige Aroma des Abenteuers, das vor mir liegt: Dem Fremden auf den Leib zu rücken, es zu bedrängen, daran zu rütteln – es auszuhalten. Mein Hunger wird gestillt werden von allen Versuchungen, die ich am Wegesrand aufsammeln will. Und von Shakespeares klingender Liebesmusik: »I shall be gone and live / or stay and die.«
Der Sonnenaufgang riecht nach Schischa. Zwei Araber und ein Israeli sitzen nicht weit von mir, ziehen gemeinsam an einer Wasserpfeife. Die unzähligen Nationalitäten und Völker im winzigen Israel, nicht größer als das Saarland. Jeder hat seinen Grund zu kommen. In Israel, heißt es, habe man immer zwei Gründe für Aufbruch und Ankunft: einen, den man sagt. Und einen, den man besser verschweigt.
Es ist ein Montag im Oktober, 4 Uhr 30. Mein Kopf ist auf meinen Rucksack gestützt. Ich liege reglos im Sand und döse. Niemand war an der Rezeption meiner Pension anzutreffen, als ich an die Tür klopfte. Ich beschloss, auf das Zimmer zu pfeifen, den Rest der erschöpften Nacht in den Himmel zu starren und zu hören, was das Meer mir sagt.
Ein Aufbruch, ein Anfang, so groß, so blau, so leise wie Liebe. In das Morgengrauen gekippt, der Blick auf das weite Meer, ohne Unterschlupf, ohne Ziel, ohne Weg. Bewaffnet mit Plänen, die nur vage durchschimmern. Ich sehe, wie die Sonne Tel Aviv wach küsst. Die Surfer sind da, wenig später die Hitze. Dann stehe ich auf und schwimme im Meer.

Tief hinabtauchend sinke ich zu meinen Gedanken, schleppe mühsam hinauf, was mich nach Tel Aviv brachte.
Am Flughafen sah ich die Werbeplakate einer global agierenden Bank (Global, voll gut. Weltweit Kohle abheben! Kostenlos!). Auf vier Plakaten waren abgebildet: Kinderhände (Untertitel: »Potential mit 0«), ein Student (»Aufbruch mit 20«), ein Business-Mann mit Champagnerglas (»Erfolg mit 46«) und Hände, die Weinreben wiegen (»Herausforderung mit 58«). So bitte leben. So stellte man sich also mein Leben vor. Denken einkassieren. Abhängigkeit zementieren. Das Leben als Skript, ein Drehbuch, wie bei der Truman-Show. Trifft man diese Wahl, gibt es keine Wahl mehr. Das war’s dann. Selbst wenn ein Riss den Himmel durchschneidet.
Immer sollen wir das Leben anderer wollen. Es kommt so hübsch als Ganzes, als Einheit daher, als heißgemangelter Anzug von der Stange. Ich folgte einer Route, die bedenklich auf Bürgerlichkeitstrance zusteuerte, auf einen Lebensstil, den andere schon für mich entworfen hatten. Ich wählte den Anzug nicht einmal richtig selbst. Manchmal erhält man Stoff von minderer Qualität. Was wusste ich denn schon, wer ich war? Was wusste ich denn schon, was ich brauchte? Was gut tat?
Ich war abhängig. Ein Tramp moderner Zeiten. Digitaler Knecht. Wie in Chaplins Film »Modern Times« sangen jeden Morgen die Sirenen der Arbeit, dann die Melodien der Business-Unterwürfigkeit – und abends noch schnell irgendeinen Anbieter wechseln. Der Samstag war dann für das Amazon-Paket da. Ich war abhängig, so war’s. Von Unternehmen, Terminen und Stimmungen, Trends, Technologie und der Telekom, von Menschen, Meetings und Meinungen, von Verpflichtungen und Zwängen.
Das erregende und erfüllende Gefühl des Aufbruchs: Milchiges Licht bricht plötzlich durch alle Ritzen. Man gibt etwas auf. Den Komfort des Wissens. Man bricht auf, in einen Zustand des Nicht-Mehr-Wissen-Wollens. Heute sehen wir nichts mehr, was wir nicht vorher erwarten. Unser Leben wird von Algorithmen bestimmt. Sie berechnen, wie wir leben wollen. Sie beantworten die wichtigsten Fragen – die an uns selbst. Wir verwechseln ihre Berechnungen mit unserem Denken. Ich will das Denken zurückerobern. Ich will mit eigenen Augen sehen, nicht fragen: Wie ist es da drüben? Ich will hin, will fühlen, will spüren.
Das holprige, haltlose Leben auf der Straße will ich zu meinem Prinzip erheben. Ein Streifzug durch die Welt. Konnte losgehen. Jetzt mal Gegenwart. Kein neues Leben. Aber einen Ort zum Leben: Tage. Kurs Voraus, laufe los, steige ein, in das Flugzeug nach Tel Aviv. Und Udo Lindenberg wusste, warum, er hat es besungen, »Das Leben«: »Nimm dir das Leben / und lass es nicht mehr los / greif’s dir mit beiden Händen / mach’s wieder stark und groß / lass die andern weiterhetzen, weiterhetzen – wir nich’ / wir streunen locker durch die Gegend / mal sehn wohin es uns so bringt.«
Spazieren zum Rothschild Boulevard. Bauhaus-Bauten. Ich sitze in einem Café, ein Glas Granatapfelsaft vor mir, Palmen am Rand der abschüssigen Straße. Brandungssound auf der Tonspur. Ein Mann auf einem Fahrrad fährt mit einem Surfbrett unter dem Arm die Straße hinunter. Ein Liebespaar schlendert ihm entgegen. Das Paar lacht und küsst sich. Das Mädchen vergräbt den Kopf an der Schulter des Jungen. Auf dem Rücken des Mädchens baumelt ein Maschinengewehr. Gegenüber eine junge Frau, die ein blaues T-Shirt trägt. Aufschrift: »Imagine Peace Everywhere«. So sieht das Weiterleben aus an einem Ort, an dem sie jungfräuliche Seelen in Uniformen stecken und sie für etwas kämpfen lassen, was sie Freiheit nennen wollen. Was in Tel Aviv unverzüglich haften bleibt, sind die Widersprüche. David Sedaris wusste: »Speed eliminates all doubt.« Geschwindigkeit vernichtet allen Zweifel, befeuert Gedankenroutine und unseren vielleicht größten Irrtum: die Verwechslung von Bequemlichkeit und Freiheit.
Tel Aviv blickt mir in die Augen. Wer auch immer mir begegnet, schaut mich an, mit interessiertem, mit respektvollem Blick, der fragt: Wer kommt da? Wer bist du? Und der flehend fordert: Erzähl mir deine Geschichte! In Tel Avivs Augen lodert noch aufmerksames Interesse. Jetzt falle ich in grüne Augen, versinke dann in blaue, braune, schwarze. Ein Bündel flammender Blicke folgt, fröhliche, funkelnde, leuchtende, glänzende, scheinende, strahlende, kaleidoskopartige, große, kleine, runde, schmale, aufgerissene, verdrehte, verweilende, sezierende, suchende, hektische, geschminkte, ungeschminkte, melancholische, teuflische, engelsgleiche, fragende, nickende, blitzende – Lebensbeweise.
Wir haben verlernt. Zu fragen, zu bitten, zu sehen. Hinzusehen. Uns anzusehen. Wir verschenken keine Aufmerksamkeit mehr. Wir nehmen nur noch. Immer dann, wenn wir Empfang haben, mit den paar Zoll Display. Wir betrachten Dinge, begehren und verehren sie. Und wir stürzen unsere Welt damit ins Chaos.
Dabei genügen unserem Gehirn zweihundert Millisekunden, um ein einzelnes Gesicht zu erkennen, und man sagt, es brauche auch nicht viel länger, um sich zu verlieben. Und wenigstens diese eine Sache, die wir lieben, braucht unsere Seele doch. Das ist es doch wert, das Leben. Warum tun wir es so selten?

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